Flatlands300-My 1st Gravel Ultra
700 Kilometer liegen bereits hinter uns, als wir die deutsche Grenze zu den Niederlanden passieren. Auf idyllischen Landstraßen, gesäumt von endlosen Hanfplantagen, führt uns die Route zum Naturcampingplatz in Drenthe.
Wir sind angekommen beim Flatlands300, meinem ersten Gravel (don´t call it Race) Ultra.
In einem riesigen Waldgebiet kann sich jeder seinen Lieblingsbaum aussuchen, ihn umarmen und neben diesem sein Nachtlager aufschlagen. Genau in solch einer entspannten Atmosphäre, habe ich mir mein erstes Gravelevent vorgestellt.
Die Tatsache, dass ich meinen extra für dieses Event beschafften Anklebe-Schnurrbart zu Hause vergessen habe, trübt die Stimmung nur kurz.
Nachdem wir das Fahrerlager aufgeschlagen haben, folgt ein automatisierter Ablauf wie vor jedem Rennen. Vorbelastung fahren, Fotoshooting, Equipment richten, die Crew haut sich die ersten 5 Bier in den Schädel.
Der Wald füllt sich allmählich mit Zelten und coolen Gravelbikes. In der Abendsonne schlendern wir nun zum Fahrerbriefing. Unter einem Zelt sitzen wir gemütlich zusammen – 300 Starplätze gab es, 450 Fahrer sind nun hier. Es zeigt, der Gravelsport boomt.
Während der Veranstalter uns auf eine sehr unterhaltsame und lustige Weise die letzten Details für die morgigen 300 Kilometer erklärt, zeigt er später bei der Pasta Party deutlich weniger Talent. Hier wird einem eindrücklich bewiesen, wie man einen Nudelsalat in 5 unterschiedlichen Serviervorschlägen desaströs zubereiten kann. Zum Carboloading gezwungen, lassen wir diesen kulinarischen Totalschaden über uns ergehen und fallen gegen 22:00 Uhr ins Bett, den Wecker auf 04:00 Uhr gestellt.
Der Wecker klingelt, ich schwinge mich aus dem Bett, um für Gerald und mich ein kraftvolles Frühstück zuzubereiten. Gerald ist Langstreckenrookie und mein Partner für den heutigen Tag. Ich bin heute quasi der Obi Wan Kenobi des Ultracyclings und Gerald wird für den heutigen Tag mein junger Padawan sein. Nachdem das Porridge weginhaliert wurde, richten wir unsere Bikes und nehmen dann kurz nach 6 Uhr die anstehenden 304 Kilometer in Angriff.
„It’s not a Race“, genau deshalb kann man seine Startzeit selbst wählen und muss nur innerhalb des vorgegebenen Zeitlimits das Ziel erreichen. Die wunderschönen, aber doch recht schmalen Radwege sind überzogen mit knöcheltiefen Matschlöchern. Auch wenn man separiert startet, läuft alles auf den ersten 50 Kilometer wieder zusammen. Aufgereiht wie an einer Perlenschnur staut es sich vor den Schlammlöchern. Einige bremsen aus Vorsicht die ganze Gruppe zusammen, andere fahren im Schritttempo um das Schlammloch, andere liegen gestürzt im Schmodder. Gerald, der kleine „Fahrttechnikgott“ sneaked sich mutig mit Vollspeed durch die Schlammlöcher, ich selbst bin weniger geschickt und kassiere dabei immer mehrere Meter Rückstand, welche ich dann immer wieder mühsam zufahren muss. Während ich also um den Anschluss kämpfe, ist es Gerald, gefangen im Verkehr deutlich zu langsam. Er möchte gerne Gas geben und sich nach vorne kämpfen. Ich sag nur zu ihm: „Spar dir die Körner, schau dir den im gelben Trikot an, merke dir den mit der grauen Hose und den mit dem roten Helm. All die, die jetzt mit Fullspeed an uns vorbeiziehen werden wir spätestens in 8 Stunden wiedersehen.
Gerald meint nur: “Wenn du das sagst, dann ist das so“ und klemmt sich an mein Hinterrad.
„Wow“, so muss es sich also anfühlen, wenn man was zu sagen hat. Als langjährig, glücklich verheirateter Ehemann ein Gefühl, welches mir in diesem Moment gleichermaßen fremd und überwältigend ist.
So versuchen wir, ohne zu überpacen den ersten Checkpoint bei Kilometer 100 zu erreichen.
Wir biegen auf eine Wiesenpassage ein. Durch das hohe Gras merkt man zunächst nicht, dass die komplette Wiese unterspült und mit Löchern durchsetzt ist. Einige Fahrer vor uns stürzen, ich selbst versuche entsprechend vorsichtig und mit gekonntem Auge dieses Stück zu meistern. Rechts und links ziehen Fahrer an uns vorbei. Ok, ich selbst drück schon 400 Watt und werde gnadenlos überholt. „It’s not a Race“ – spätestens jetzt glaubt den Scheiß doch keiner mehr. Sind wir etwa schon am Checkpoint da vorne, stehen die Fahrer aufgereiht am Streckenrand. 100 Meter Wiesenstück haben soeben 20 Fahrer aus dem Rennen genommen, weil sie alle Gras aus ihrem Antrieb fingern müssen. Manchmal hat man Glück, manchmal hat man Pech, mich erwischt es kurze Zeit später.
Kurz vor Erreichen des Checkpoint 1, werde ich von einem Schlammloch niedergestreckt und lande in einem Stück Weidezaun, welcher mir die äußerst praktische Netz-Seitentasche meiner passgenauen und funktionellen DOWE Ultra 1 Trägerhose für 179,90€ im Onlineshop „Hier könnte ihre Werbung stehen“ durchlöchert.
Am Checkpoint geht dann alles ratzfatz – meine Crew um Jonas und Marco läuft zur Höchstform auf. Kette reinigen, Kette schmieren, Rucksack mit Gels und Riegel bestücken, Flaschentausch und Abnahme der überflüssigen Kleidung – alles wird in Formel 1 – Manier, sekundenschnell erledigt. Ich bin schon wieder abfahrtbereit, Gerald hat noch nicht mal richtig ausgeklickt und sucht noch immer den Stempelposten, der ihm seine Streckenkarte stempelt.
Nachdem ich nun dem Brioche und dem Stück Apfelkuchen, welche Gerald gerne vertilgen möchte, die Absolution erteilt habe und selbige verschlungen wurde, machen wir uns auf den Weg zu Checkpoint 2.
Wir finden uns schnell in einer größeren Gruppe wieder. Bei den anstehenden Asphaltabschnitten und den windigen Bedingungen machen wir so schnelle Kilometer. Gerade im Geschwindigkeitsrausch angekommen werden wir bzw. Gerald von hinten angequatscht.
Du scheinst ein Loch im Reifen zu haben und spritzt alle voll. Die Kombination aus Reifen- Dichtmilch, Tempo 40 und einem Loch in der Lauffläche sorgt für Szenen wie man sie sonst nur aus FSK18 Filmen kennt.
Intuitiv halten wir an, um das Hinterrad zu checken. Die Milch hat glücklicherweise das Loch verschlossen, aber leider haben wir die schnelle Gruppe verloren und kämpfen von nun an zu zweit gegen den Wind und die Strecke. Wir passieren die 150 Kilometermarke, es ist Halbzeit und uns geht es gar nicht gut. Gerald klagt über eklatante Knieschmerzen, mir selbst fehlen rund 50 Watt auf dem Pedal. Dass wir leiden werden, war klar, dass das Ganze schon nach 6 Stunden und gerade mal bei Halbzeit einsetzt ist ernüchternd. Wir sind allein unterwegs, die Gruppen, die von hinten kommen, können wir nicht halten und müssen sie ziehen lassen. Gerald ist die Langdistanzen nicht gewohnt und meine Weisheitszahn-OP letzte Woche hat wohl doch noch seine Spuren hinterlassen. Die verbleibenden 50 Kilometer zum Checkpoint 2 scheinen endlos zu sein. Mit 170 Watt auf der Kurbel pimmeln wir fast in Zeitlupe über den Kurs. Wir starren auf unsere Tachos und leiden bei jedem Kilometer, welcher uns angezeigt wird. Irgendwann erreichen wir Checkpoint 2. Unsere Crew leitet sofort die Wiederbelebungsmaßnahmen ein: 2 Pfannkuchen, ein Stück Apfelkuchen, einmal Red Bull, kurz absetzen und durchatmen.
Während andere ihre Verpflegung im Gepäcktransport suchen, verlassen wir längst wieder den Checkpoint. Fahrer, welche uns schon zweimal überholt haben, sind wieder zurückgefallen.
Dies haben wir dem überragenden Job zu verdanken, welchen Marco und Jonas hier abliefern. Jede Minute, die wir beim Stoppen sparen und nicht auf der Strecke einfahren müssen, ist Gold wert und ich habe das Glück die weltbeste Crew an meiner Seite zu haben.
Wir sind zunächst wieder zu zweit unterwegs, an einer geschlossenen Bahnschranke müssen wir jedoch akzeptieren, dass wir von der nächsten Gruppe aufgefahren werden. Natürlich tut es gut sich im Windschatten abzuwechseln, aber das Hinterrad von Gerald macht sich erneut bemerkbar und wir müssen wieder stoppen, den Reifen flicken und verlieren so die Gruppe. Glücklicherweise sind wir deutlich besser drauf, als auf den letzten 100 Kilometern. Die Beine und die Wattzahlen kommen zurück und selbst nach unserem Reifendefekt schaffen wir es die Gruppen von vorne wieder zurückzuholen. Bei Kilometer 250 schiebt die Crew noch mal eine Sonderschicht und versorgt uns mit Red Bull, einer Kopfdusche, ein paar salzigen Snacks und so machen wir uns bereit für den Kampf auf den letzten 50 Kilometern. Die Power kommt nach 250 Kilometern endlich zurück und mit entsprechendem Druck auf dem Pedal können wir den Moment auch wieder mehr genießen, während wir weiterhin von einer unglaublich schönen Streckenführung durch Wälder, Trails, Sandstraßen und wunderschönen Gravelwegen verwöhnt werden. Dass Holland bzw. die Niederlande solch ein geiler Gravelspot ist, hätte ich nicht gedacht und ich muss gestehen, dass war landschaftlich das Schönste, was ich bisher in einem Rennen (sorry, „don’t call it a race) erlebt habe.
Die erquickende Zweisamkeit von Gerald und mir wird jäh unterbrochen, als wir plötzlich von einer 8-Mann-Gruppe überfahren werden. Im Gegensatz zu Kilometer 150, haben wir nun aber die Beine, um in der Gruppe zu bleiben. Zwei Trettschweine machen hier das Tempo, 6 Fahrer lutschen und Gerald und ich versuchen erstmal dranzubleiben und durchzuatmen. Ich schau mir das gut 20 Kilometer an, aber ich bin wahrlich nicht der Typ, der sich ins Ziel lutscht. Ich hab mich etwas erholt, bin gestärkt und fahre an die Spitze der Gruppe. Dem Typ im Wind gebe ich ein High 5 und bedanke mich für die tolle Arbeit, welche er auf den letzten Kilometern geleistet hat. Nun will ich meinen Teil auch dazu beitragen und fungiere als Windschattenspender. Mit jedem zusätzlichen Kilometer, welchen man nach 10h im Sattel bewältigen muss, merkt man den Verschleiß. Leider sind unter meiner Führungsarbeit die zwei Trettschweine fliegen gegangen und die 6 Fahrer, die nun seit 30 Kilometern lutschen tun dies weiterhin, als würde keiner zugucken.
Es beginnen Taktikspielchen und ich lasse den ein oder anderen Tritt aus, um die anderen zur Tempoarbeit zu zwingen. 2 Fahrer, die scheinbar auch als Team unterwegs sind, setzen sich an die Spitze, nutzen ihre Power jedoch nicht um die Gruppe anzuführen, sondern attackieren in den wenigen Steigungen, die sich uns in den Weg stellen. Nun wird aussortiert und 20 Kilometer vor Schluss sind nur noch 4 Fahrer aus der 10-Mann-Gruppe übriggeblieben. Es wäre jetzt absolut verständlich gewesen, wenn Gerald und ich uns mit den zwei verbliebenen Fahrern ins Ziel retten, schließlich ist es kein Rennen, schließlich gibt es keine Wertung, schließlich haben die anderen Fahrer nicht dieselbe Start- und somit auch eine andere Endzeit. Aber die Fahrweise der beiden hat uns getriggert und wir wollen „uns nicht ins Ziel retten“, sondern „die beiden abhängen“.
10 Kilometer vor Schluss gibt es eine unübersichtliche Routenführung. Ich fahr kurz falsch, die zwei halten an, Gerald fährt richtig. Wir sortieren uns schneller als die anderen beiden und es entsteht genau die Lücke, um uns nun im belgischen Kreisel oder besser gesagt im belgischen Zweisel 😊 ins Ziel zu retten.
So endet also mein erstes Gravel „don´t call it Race“ Ultra. Eine tolle Seilschaft mit Gerald auf einem hammerharten und zugleich wunderschöne Kurs durch Holland /den Niederlanden.
Danke an Pamela, Marco und Jonas, die uns dank ihrem Support immer die extra Portion Rückenwind geben.
Danke an meine Blogpartner und Sponsoren.
Bilder @Florian Meinhardt
Special Thanks an die Firma Deuter und DOWE Sportswear, die dieses Gravelprojekt in besonderem Maße unterstützt haben.
Danke an die Foto- und Filmcrew rund um Florian, Stephan und Valle, die uns an diesem Tag begleitet haben, warum, verrate ich euch zu einem späteren Zeitpunkt.